AMNESTY INTERNATIONAL
PRESSEERKLÄRUNG (5. April 2016)
CHILE: Zweigeteilte Rechtsprechung lässt Polizei bei Menschenrechtsverletzungen straffrei ausgehen.
Laut einem neuen Bericht von Amnesty International erlaubt es die skandalöse zweigeteilte Rechtsprechung[*] in Chile Polizisten, friedliche Demonstranten und andere Personen zu prügeln, zu misshandeln und in einigen Fällen zu töten, denn sie werden höchstens einer minimalen Strafe unterworfen.
Der Bericht “No sabía que existían dos justicias” Justicia militar y violencia policial en Chile (Militärrecht und Polizeigewalt in Chile: Ich wusste nicht, dass es zweierlei Recht gab) zeigt, dass chilenische Gerichte bei Fällen von durch die Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen für gewöhnlich weder angemessene Ermittlungen anstellen noch Anklagen gegen die eines solches Deliktes verdächtigten Polizisten erheben. Bei den vor diesen Gerichten geführten Prozessen herrscht ein grundsätzlicher Mangel an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.
„Chiles Militärgerichten sollte es nicht erlaubt sein, gegen Mitglieder aus ihren eigenen Reihen zu ermitteln, ein Gerichtsverfahren durchzuführen und sie zu bestrafen – das versteht sich von selbst. Das ist, als würden die Gerichte erlauben, dass Straftäter von ihren eigenen Familienangehörigen gerichtet werden“, sagt Ana Piquer, Leiterin von Amnesty International in Chile.
„Dieses völlig absurde System verhinderte viel zu lange, dass Chileninnen und Chilenen Zugang zu ihrem Recht bekamen. Es ist an der Zeit, dass die Regierung und der Kongress dieser Tatsache ins Auge sehen und klar zu erkennen geben, dass sie auf der Seite des Gesetzes stehen, indem sie verhindern, dass Militärgerichte sich mit Fällen von Menschenrechtsverletzungen befassen.“
Während der letzten Jahre verstärkten sich die Demonstrationen in ganz Chile, und so erhöhte sich auch die Gewalt der Polizei gegen die Demonstranten. Amnesty International registrierte Fälle, bei denen Polizisten Demonstranten schlugen oder unterschiedslos Tränengas und Wasserwerfer gegen sie einsetzten. Verschiedene Personen wurden verletzt, darunter friedliche Demonstranten und Zuschauer, und einige wurden im Verlauf friedlicher Demonstrationen sogar getötet.
Grausame Statistiken
Militärgerichte verurteilten nur selten Angehörige der Sicherheitskräfte, die verdächtigt wurden, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben. In den seltenen Fällen, in denen eine Untersuchung eingeleitet wird, findet der Prozess hinter verschlossenen Türen statt. Strafen sind in der Regel gering bemessen, und Offiziere erhalten selten eine Haftstrafe.
Laut offiziellen von Amnesty International analysierten Statistiken wurden bei einem der 6 Militärgerichte des Landes (Zweites Militärgericht von Santiago) nur in 0,3% der gemeldeten Fälle von Misshandlungen gegen Demonstranten in den Jahren 2005, 2008, 2011 und 2014 Strafverfahren eingeleitet (14 von 4.551).
Polizisten kommen glimpflich weg
Manuel Gutiérrez, 16 Jahre alt, starb im August 2011 in Santiago an einer Schussverletzung im Brustkorb. Er hatte sich auf dem Nachhauseweg befunden und beobachtete einen Protest, als die Auseinandersetzungen in dieser Nacht zwischen der Polizei und den Demonstranten gewalttätig wurden. Die Behörden dementierten sofort, dass der für den tödlichen Schuss Verantwortliche ein Polizist gewesen sei, und erklärten, Manuel sei in einen Kampf zwischen lokale rivalisierende Jugendbanden geraten.
Nachdem Manuel in eine Klinik gebracht worden war, verhaftete man einen Polizisten. Fünf Tage nachdem der Junge an der Verletzung starb, verwies die mit dem Fall betraute Staatsanwältin den Fall an die Militärgerichtsbarkeit mit dem Hinweis, dass dieser nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liege. Im Mai 2014 erklärte das Militärgericht den für den tödlichen Schuss auf Manuel und die Verwundung eines weiteren Jugendlichen Verantwortlichen für schuldig. Anfangs verurteilte man ihn zu 3 Jahren und 61 Tagen Gefängnis, aber dann wurde ihm erlaubt, die Zeit unter Hausarrest zu verbringen. Nach erneutem Einspruch des Polizisten wurde die Strafe auf 461 Tage reduziert, so dass dieser nie einen Fuß ins Gefängnis setzen musste.
In einem ähnlichen Fall verlor der Fotoreporter Víctor Salas fast sein rechtes Augenlicht, nachdem er von einem Polizisten geschlagen worden war, als er über eine Demonstration in Valparaíso im Mai 2008 berichtete.
Fast vier Jahre danach, im Januar 2012, verurteilte ein Militärgericht den Polizisten zu 541 Tagen Gefängnis wegen „unnötiger Gewaltanwendung, die schwere Verletzungen verursachte“ (violencias innecesarias causando lesiones graves). Ein Jahr danach reduzierte ein militärisches Berufungsgericht das Urteil auf 300 Tage Haft, weil er nicht vorbestraft war. Später wurde er wieder in seine frühere Position eingesetzt. Seitdem kämpft Víctor Salas um eine Entschädigung für den Einkommensverlust, den er als Folge seiner Verletzungen erlitt.
„Der Rückgriff auf Militärgerichte, die nur scheinbar der Gerechtigkeit dienen, ermöglicht es Chiles Sicherheitskräften, auch bei schweren Delikten straffrei auszugehen. Dieses absolute Fehlen von Gerechtigkeit, dazu die wachsende Anzahl von Polizeimisshandlungen gegenüber friedlichen Demonstranten, sind verhängnisvoll“, fügte Ana Piquer hinzu.
„Die Polizisten scheinen genau zu wissen, dass das Prügeln und Schießen auf Zivilisten kaum Konsequenzen haben wird.“
Der Kongress muss endlich einen Gesetzentwurf einbringen, mit dem die Rechtsprechung zu Menschenrechtsverletzungen, die von Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei begangen werden, an Zivilgerichte übertragen wird.
Der Bericht: ‘I didn’t know there were two kinds of Justice‘ Military Jurisdiction and Police Brutality in Chile befindet sich auf Englisch und Spanisch bei www.amnesty.org unter
https://www.amnesty.org/es/documents/amr22/3209/2016/es/
[*] Anzeigen gegen Militär- und Polizeikräfte werden ausschließlich vor Militärgerichten verhandelt