Amnesty International Jahresbericht 2024/25

Das Ende einer Ära?

Mächtige Staaten scheren sich nicht um die Lehren der Geschichte. Sie tun so, als könnten sie die Errungenschaften der 1930er- und 1940er-Jahre – von der Völkermordkonvention über die Genfer Konventionen bis hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der UN-Charta – beiseiteschieben, vergessen und auslöschen. Mit Donald Trumps Wahlsieg und seiner Kooperation mit großen Konzernen werden wir mit hoher Geschwindigkeit in ein brutales Zeitalter katapultiert. Darin werden Menschenrechte und Diplomatie von militärischer und wirtschaftlicher Macht übertrumpft, geschlechtsspezifische und rassistische Hierarchien prägen die Politik und ein nihilistischer Nationalismus bestimmt die internationalen Beziehungen.

Was tun?

Im Jahr 2024 einigten sich alle 193 Mitgliedstaaten der UN-Generalversammlung darauf, den Weg für das erste Abkommen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ebnen. Außerdem hat die UN-Generalversammlung 2024 vereinbart, ein Rahmenübereinkommen über die internationale Zusammenarbeit in Steuersachen zu schaffen. Es soll den Weg zur Verhinderung von Steuermissbrauch ebnen und potenziell wichtige Mittel für die Verwirklichung von Rechten bereitstellen.

Gambia hat 2024 mit der Ablehnung eines Gesetzentwurfs zur Aufhebung des Women’s (Amendment) Act von 2015 das Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung bestätigt. Als 19. europäisches Land hat Polen eine auf dem Zustimmungsprinzip basierende Definition von Vergewaltigung angenommen, und das bulgarische Parlament hat einen Gesetzentwurf zur Schaffung eines Registers für “ausländische Agenten” nach russischem Vorbild abgelehnt. Nationale Gerichte haben 2024 die Verantwortung Belgiens für Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt, die während der Kolonialzeit begangen wurden. Und Anfang 2025 haben die philippinischen Behörden den ehemaligen Präsidenten Rodrigo Duterte an den Internationalen Strafgerichtshof übergeben, wo er sich wegen seines tödlichen “Kriegs gegen Drogen” einem Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellen muss.

Der Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen im September 2024 verbuchte zwar nur begrenzte Erfolge, die Mitgliedstaaten einigten sich jedoch darauf, ein gerechteres internationales System zu schaffen. Dazu wollen sie mehr afrikanische Staaten, die im Sicherheitsrat vertreten sind. Das internationale Finanzwesen soll umgestaltet, die Schuldenkrise angegangen und Fördermittel erhöht werden.

Entscheidend ist jedoch, dass das Jahr der Wahlen – von denen 2024 weltweit 64 stattfanden – nicht zu einem Siegeszug menschenrechtsfeindlicher Kräfte führte. Überall auf der Welt haben unzählige Menschen für einen anderen Weg gestimmt und damit gezeigt, dass die Ausbreitung autoritärer Praktiken nicht unvermeidlich und eine Gegenwehr möglich ist.

Die Zukunft ist noch nicht entschieden, die Welt befindet sich an einem Scheideweg. Hundert Tage nach dem Amtsantritt von Donald Trump stellen sich einige Staaten dieser Herausforderung, doch die meisten bleiben untätig. Viele tun so, als sei der neue Kaiser angemessen gekleidet, während andere gleich seinen Kleidungsstil übernehmen. Die nackte Realität ist jedoch alarmierend: Unterdrückung abweichender Meinungen, Angriffe auf die akademische Freiheit, rasant steigende Militärausgaben, Streichung von Hilfsgeldern, Vergeltungsmaßnahmen im internationalen Handel – das sind die Phänomene einer Welt, die in einer schweren Krise steckt.

Natürlich müssen wir die strukturellen Mängel bewältigen, die das internationale System bei der Gewährleistung der Menschenrechte aufgezeigt hat. Aktuell haben wir es jedoch mit wiedererstarkten Kräften zu tun, die darauf hinarbeiten, ein völlig neues System durchzusetzen: eines, das keinesfalls besser für Gleichheit und Gerechtigkeit gerüstet ist, sondern eines ohne menschenrechtlichen Schutz; eines, das der Rechtsstaatlichkeit keinesfalls besser dient, sondern eines, das der Herrschaft des Profits auf Kosten der Gerechtigkeit dienen soll.

Der organisierte Widerstand gegen diese Kräfte ist nicht nur unerlässlich, er ist unser einziger Ausweg. Wenn Staaten nicht für die Menschenrechte einstehen, erheben Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen ihre Stimme, wie sie es schon immer getan haben. Sie widersetzen sich Macht und Profit, die rücksichtslos unser aller Würde aufs Spiel setzen. Und zeigen einmal mehr, dass die Zivilgesellschaft bei der Verteidigung der Menschenrechte und grundlegender Freiheiten an vorderster Front steht.

Wir müssen Widerstand leisten. Und wir werden Widerstand leisten.

 

 

 

7. Juni 2025